21.09.–30.10.2022 / Ballett

Vier neue Tem­pera­mente

George Balanchine | Michèle Anne de Mey | Demis Volpi | Hélène Blackburn | John Neumeier
Mi 21.09.2022
Opernhaus Düsseldorf
19:30 - 22:30
Wiederaufnahme Ballett
Beschreibung
DIE VIER TEMPERAMENTE George Balanchine
PHLEGMATIC SUMMER Michèle Anne de Mey
SANGUINIC: CON BRIO Demis Volpi
CHOLERIC Hélène Blackburn
FROM TIME TO TIME John Neumeier
ca. 3 Stunden, zwei Pausen
Empfohlen ab 12 Jahren
„Die vier Temperamente“ von George Balanchine sind nicht nur ein Glanzstück des neoklassischen Ballettrepertoires, sie verkörpern auch alles, was den Stil des russisch-amerikanischen Starchoreographen ausmacht: virtuose Technik, athletische Vitalität und charmante Details. Mit der gleichnamigen Musik des Komponisten Paul Hindemith entwarf Balanchine seine Interpretation der antiken vier Grundtemperamente Phlegmatisch, Sanguinisch, Melancholisch und Cholerisch. Diese neoklassische Perspektive dient dem Abend als Ausgangspunkt für vier neue Sichtweisen. Zeitgenössische und individuelle Versionenmenschlicher Stimmungsmuster reihen sich ein und erforschen tänzerisch die Vielschichtigkeit unseres Empfindens.
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John Neumeier ist eine fixe Größe der nationalen wie internationalen Ballettwelt und seit beinahe 50 Jahren Ballettdirektor und Chefchoreograph des Hamburg Ballett, für das er bedeutende abendfüllende Werke schuf und immer noch kreiert. Umso interessanter ist es nun für ihn, Teil eines Abends zu sein, der verschiedene Stile und Handschriften zusammenbringt. Für das Ballett am Rhein choreographiert er eine Uraufführung zum melancholischen Temperament und lässt sich dabei von der Musik Franz Schuberts leiten. Bittersüß liegt Sehnsucht und Erwartung in jeder Bewegung, in jedem Innehalten und Atemzug.

Seit mehr als 30 Jahren leitet die Franco-Kanadierin Hélène Blackburn die weltweit erfolgreich tourende Tanzcompagnie „Cas Public“ in Montréal. Ihre Stücke gastieren regelmäßig an renommierten internationalen Häusern wie der Pariser Oper, sind aber genauso in Schulen und Bildungseinrichtungen zu sehen, denn Blackburn hat sich zum Ziel gesetzt, anspruchsvolles zeitgenössisches Tanztheater für alle Generationen zu schaffen. Sowohl strukturell als auch ästhetisch nimmt sie die Originalchoreographie von Balanchine zu „Cholerisch“ unter die Lupe und kreiert aus ihrer Sicht auf die einzelnen Elemente eine neue Choreographie.

Die belgische Choreographin Michèle Anne de Mey setzt sich für diesen Abend mit dem vermeintlich untänzerischen phlegmatischen Temperament auseinander und konfrontiert dieses mit der Energie von Vivaldis „Die vier Jahreszeiten“. De Mey, die 1982 neben Anne Teresa de Keersmaeker eine der Mitbegründerinnen der Compagnie „Rosas“ war, hat in den letzten Jahren vor allem mit Arbeiten auf sich aufmerksam gemacht, die zwischen den Genres Tanz, Theater und Film changieren – hochpräzise, einfühlsame Werke, die wie Miniaturen daherkommen und doch mit erstaunlich großer Wucht überraschen.

Dem sanguinischen Temperament geht Demis Volpi, Ballettdirektor und Chefchoreograph des Ballett am Rhein, in seiner Uraufführung nach. Als temperamentvoll, lebhaft und heiter gilt der sanguinische Mensch - davon ausgehend untersucht Volpi in seiner Choreographie die treibende Kraft, die die Grundlage unserer bewegten Körperlichkeit bildet.
Die vier Temperamente
Uraufführung am 20. November 1946, Ballet Society, Central High School of Needle Trades, New York
Stimmen unserer Scouts zu "Vier neue Temperamente"
Dieser Ballett-Abend beschäftigt sich mit den vier Temperamenten –beruhend auf der Temperamentenlehre, die wiederum auf die Vier-Säfte-Lehre gründet und Hippokrates zugeschrieben wird. Ich habe mich während des Studiums mit diesem Thema beschäftigt: Fasziniert hat mich immer das melancholische Temperament. Daher bin ich besonders gespannt und – wie passend – gleichzeitig ohnehin melancholisch gestimmt, denn heute ist mein letzter Einsatz als Opern- und Ballett-Scout an der Deutschen Oper am Rhein.
Der Abend präsentiert fünf sehr unterschiedliche Choreographien, fünf verschiedene Blicke auf die vier Temperamente. Das letzte Stück „from time to time“ fesselt mich mehr als alle anderen: Es beschäftigt sich mit dem melancholischen Temperament: Erinnerung an Vergangenes, Familie(n-Konstellationen), Unwiederbringlichkeit. Wunderschön zart und behutsam inszeniert sowohl bühnenbildnerisch als auch tänzerisch.
Ein sehr dichter Abend, der die Zuschauer*innen mit einer Fülle an Eindrücken zurücklässt und lange nachwirken wird. Damit ein perfekter Abschluss meiner ehrenvollen Aufgabe als Oper- und Ballett-Scout, denn Wehmut gehört nun einmal dazu.
Helma Kremer
Markus Wendel
Dieser Abend ist von vorne herein groß angelegt. Fünf Ballette, davon vier Uraufführungen, das ist schon ordentlich. Und es wird klar, dass auch der Zuschauende etwas Kraft und Kondition mitbringen muss. Die Belohnung kommt in Form eines wirklich außergewöhnlichen Abends.

Besonders berührt haben mich die vier "neuen" Temperamente und somit die Uraufführungen. Aufgrund ihrer Verschiedenartigkeit steht jedes Stück für sich selbst, Vergleiche mag ich nicht anführen.

Ein kleiner Tipp: Vorher den "Ballettführer Audio" anhören oder vor der Vorstellung die Einführungsveranstaltung besuchen. Ich lasse mich gerne auch mal überraschen, aber gerade bei diesem Programm wird man um Hintergründe und Empfindungen bereichert, die sonst im Verborgenen bleiben.

Ein weiterer großer Wurf unseres Ballettdirektors, der mich mit seinem ganz eigenen Gespür an jedem seiner von ihm verantworteten Abende zu begeistern vermochte. Bitte weiter so!
Ein Füllhorn an Ballettprogramm, was über das Publikum ausgeschüttet wird. Mit „Die vier Temperamente“ gehts los. Jeder Anschlag der Klavierbegleitung löst eine Bewegung aus. Filigran und komplex gleichzeitig. Die folgenden 4 Uraufführungen orientieren sich am Titel des Auftaktstücks.
Großartig, wie die eng gestellte Gruppe sich in weicher Bewegung, en-bloc den Sechzehnteln der Violine entgegenstemmt.
Oder die Lichteffekte, die danach eine ganz eigene Rolle im Zusammenspiel mit den Tänzer*innen einnehmen. Dazu Instrumental-Zitate, die an Beethoven erinnern.
Bebend, zitternd bringt einem in „Choleric“ die ganze Zerrissenheit näher.
Die vierte Dimension „Zeit“ verschmilzt mit dem Raum in J.Neumeiers „from time to time“ durch eine (Plexiglas-)abgeschirmte Ebene. Solche Ideen sind es, die das Live-Erlebnis einzigartig machen und durch virtuelle Welten niemals ersetzt werden können. Die regelmäßigen Besucher lieben es, die Cracks der Computerwelten würden sich begeistern. Sie müssten nur kommen.
Michael Langenberger
Charlotte Kaup
Über "Phlegmatic Summer" und "from time to time"

„Phlegma“, welches meiner Meinung nach am schwierigsten in Tanz umzusetzen ist, da es sich kaum mit physischer Bewegung oder mentaler Bewegtheit assoziieren lässt. Die Choreographin Anne de Mey löst dies, indem sie ein emotional anrührendes Stück über die Situation der Flüchtlinge auf dem Mittelmeer kreiert. Sie vertanzt nicht das Temperament an sich, sondern führt uns als Zuschauer eine Extremsituation vor Augen, der wir selbst oft phlegmatisch zu begegnen scheinen. De Mey schafft mit Fragmenten von Bewegung, Videoausschnitten und Musikschnipseln ein tragisch harmonisches Gesamtwerk, welches unterschiedliche Kunstformen vereint.

Den Abschluss macht John Neumeier mit seinem Stück zur Melancholie - einem angedeuteten Handlungsballett über vergehende Beziehungen, welches Raum für Interpretationen lässt mit vielen schönen, eher klassischen Sequenzen.
Beglückt und auch etwas melancholisch verlasse ich kurz vor Mitternacht die Oper. Vielen Dank für die spannende Zeit als Scout!
Über Sanguinic: con brio

Es ist ein Fest für die Augen, für die Ohren und für das Herz. Endorphine ausschütten, obwohl man nur auf einem Sitz in der Mitte von Vielen weilt. Das waren sehr viele neue Temperamente – aber mein Herz gehört allen voran Demis Volpi. Wo kommt nur diese Kreativität, dieses immer wieder überraschende und wahnsinnige Talent, diese grandiose Kunst nur her? Egal, Hauptsache ich gehöre zu den Gewinnerinnen, die es sehen und spüren dürfen.

Bei Sanguinic: con brio gab es dieses kleine Gefühl an Magie, dieses: Schmetterlinge-im-Bauch-Moment, von dem man weiß, das kann jetzt niemand mehr sonst erreichen. Das ist subjektiv und das ist das Schöne daran, denn ich bin mir sicher, dass viele an dem Abend zu unterschiedlichen Momenten dieses Gefühl hatten. Und Ich kann definitiv ausschließen, dass eine Person im Publikum dabei war, die unberührt blieb.
Sandra Christmann
Dr. Sassa von Roehl
Über "Die vier Temperamente" und "from time to time"

Den Anfang macht Georges Balanchine, der Erneuerer und Weiterentwickler des klassischen Balletts, kühl und streng vor blauem Hintergrund und von ästhetischer, unnahbarer Schönheit. Das Stück zeigt einen Überblick über „Die vier Temperamente“, perfekt getanzt wirkt es seltsam distanziert und vermag keine Emotionen auszulösen.

Zu einem gefälligen Song der jungen Simon and Garfunkel von 1966 beginnt das letzte Stück „from time to time“ von John Neumeier, das von einer Franz Schubert Sonate weiterbegleitet wird. Im einzigen Erzählballett des Abends lässt der berühmte Altmeister sein Leben revuepassieren. Während die Hauptfigur im Vordergrund tanzt, sieht man hinter einer matten Scheibe seine Familie und seine Freunde. Nach und nach treten immer andere Personen hervor, eine verlorene Liebschaft, die sich sorgende Mutter, der verstorbenen Vater. Doch am Schluss bleibt er allein. Ein starker Beitrag zur Melancholie und ein würdiger Abschluss des besonders abwechslungsreichen Abends, der das Publikum vielseitige Varianten des modernen Balletts hautnah erleben lässt!
Michèle Anne de Mey erzählt mit modernem Ausdruckstanz das Schicksal von Flüchtlingen auf dem Weg über das Mittelmeer. Eng zusammenstehende Tänzer:innen ahmen die Wellenbewegung des Meeres nach. Ein beklemmendes Stück. Warum „Phlegma“? Weil wir ob solcher Bilder schon abgestumpft sind.

Das heitere Gemüt der Sanguiniker beschreibt Demis Volpi mit einem Feuerwerk mitreißender Körperbewegungen zu perfekt passender Musik von Jörg Widmann. Da keine Geschichte, sondern eine Stimmung vermittelt werden sollte, fehlte zum Schluss etwas die Spannung.

Ähnlich ausdruckstark war „Choleric“ mit stampfender Musik, aggressiv-cholerisch wirkenden Tänzer:innen und harter Lichtinszenierung. Auch Hélène Blackburn choreografierte eine Stimmung und keine Handlung, auf Kosten eines fehlenden Spannungsbogens.

Der Altmeister John Neumeier bot eine emotional starke Geschichte zu Melancholie ob verlorener Beziehungen (mit eher klassischen Tanzschritten), Julio Morel tanzte zum Schluss nur noch mit sich selbst (einem gleich gekleideten alter ego). Hier gab es den größten Beifall.
Dr. Hubert Kolb
Ballettführer Audio
Einen kurzen Einblick in den Ballettabend „Vier neue Temperamente” und seine Choreographien gibt Ihnen hier Dramaturgin Carmen Kovacs. Den Ballettführer in der Live-Version können Sie 30 Minuten vor jeder Vorstellung im Foyer erleben.

Dauer: 11:34 Minuten


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