Interview mit Vitali Alekseenok

JEDE ROLLE ERFORDERT GROSSEN EMOTIONALEN EINSATZ
Ein Interview mit Chefdirigent Vitali Alekseenok von Anna Melcher.

Anna Melcher (AM): Wann ist dir „Lady Macbeth von Mzensk“ zum ersten Mal begegnet? Was fasziniert dich an diesem Werk besonders?

Vitali Alekseenok (VA): Ich lernte diese Oper zu Beginn meiner Dirigentenausbildung kennen, als ich etwa neunzehn Jahre alt war. Schon damals war ich von dieser Mischung aus Groteske und Tragik, Satire und Herzlichkeit beeindruckt. Außerdem habe ich eine persönliche Beziehung zu dieser Oper, da mein Dirigierprofessor aus St. Petersburg, Alexander Alekseev, einer der ersten war, der die zweite Fassung dieserOper, „Katerina Ismailowa“, dirigierte, und bei dieser Gelegenheit in direktem Kontakt mit dem Komponisten stand.

AM: Bist du der Musik Dmitri Schostakowitschs über diese Oper hinaus verbunden?

VA: Sehr sogar. Schostakowitsch bedeutet mir mit seinem symphonischen Denken, der Tiefe seines künstlerischen Ausdrucks sehr viel. Seine Wurzeln liegen sehr stark in der deutschen Musik, von Bach über Beethoven bis Mahler, die mir ebenfalls sehr nahe stehen.

AM: Welche erzählerische Struktur hat Schostakowitsch in „Lady Macbeth von Mzensk“ verfolgt?

VA: In vielerlei Hinsicht orientieren er und der Librettist Alexander Preis sich an der gleichnamigen Erzählung von Nikolai Leskow. Der Komponist hat diese in Teilen folkloristische Erzählweise jedoch in den Rahmen des Musiktheaters übertragen. Die Oper hat etwas von einem Roman: Die Hauptfiguren werden nacheinander eingeführt, dann kommt es zu ihrer Interaktion und Entwicklung, die am Ende in einer Katastrophe endet.

AM: Welche Bedeutung haben die orchestralen Zwischenspiele und wie korrespondieren sie mit den Szenen?

VA: Diese Zwischenspiele erfüllen eine sehr wichtige Rolle in der symphonischen Entwicklung der Oper. Sie sind angefüllt mit psychologischem Geschehen, wie eine unterbewusste Verarbeitung dessen, was gerade „bewusst“ passiert ist, auf der Ebene von Text und Bühnenhandlung. Diese Psychologie reicht von der unheimlichen und bedrückenden Umgebung Katerinas über das Banale und Groteske bis hin zur tiefen Verzweiflung der Passacaglia nach Boris’ Tod, die wie manche expressionistische Gemälde den ganzen Schrecken des Geschehenen offenbart.


Der Meister des absurden Theaters Eugène Ionesco skizzierte 1962 in seinem Essay „Argumente und Argumente“ seine Haltung zur Komik so: „Alles auf die Spitze treiben, an die Quellen des Tragischen führen. Gewaltiges Theater machen, gewaltig komisches, gewaltigdramatisches Theater. Die Farce kann den tragischen Sinn eines Stücks unterstreichen. Das Licht macht den Schatten dunkler. Ich für meinen Teil habe nie den Unterschied zwischen Komik und Tragik begriffen.“ Dmitri Schostakowitsch hatte bereits in seiner ersten Oper „Die Nase“ nach der gesellschaftskritischen Groteske von Nikolaj Gogol mit dem Theater des Absurden experimentiert, seine „Lady“ beschrieb er als „tragisch-satirisch“.


Izabela Matula (Katerina Ismailowa), Beniamin Pop (Priester), Sergey Polyakov (Sergej), Chor der Deutschen Oper am Rhein
AM: Wo und wie hat die Satire, die Groteske Eingang in die Partitur gefunden? Wie ist sie im Gesamtgefüge der Komposition eingebettet?

VA: Nahezu jede Figur außer Katerina hat musikalische Elemente der Satire, was einen absolut gewaltigen Kontrast zwischen Musik und Text und zwischen Text und dramatischer Handlung bedeutet. Schostakowitsch verwendet die Harmonien und Rhythmen der leichten Musik, wo man etwas Schweres erwarten würde, und Tanzbarkeit, wo es tragisch wird. Am deutlichsten wird dies wohl im Arioso des Priesters bei Boris’ Leiche. All diese Figuren stehen in starkem Widerspruch zu Katerina. Aber auch sie wird von Schostakowitsch musikalisch „heruntergezogen “, wenn sie der Banalität erliegt: Sobald der erste Schritt zu ihrer Affäre mit Sergej erfolgt und dies von Boris entdeckt wird, hören wir Musik, die wie eine bizarre Zirkusnummer klingt.

AM: Dmitri Schostakowitsch bekundete seine Sympathie für Katerina immer wieder. In „Meine Auffassung der ‚Lady Macbeth‘“ schrieb er 1934: „Es lohnt sich nicht, darüber zu richten, wie ich an die Rechtfertigung Katerinas herangehe: Das Hauptmittel dafür soll die Musik sein.“ Wie schafft es Schostakowitsch in seiner Musik, seine Protagonistin trotz Gift- und Gewaltmord nicht als Shakespearesche Bösewichtin zu zeichnen?

VA: Die lyrischsten, melancholischsten, schönsten und ausdrucksvollsten Seiten dieser Partitur hat der Komponist für Katerina geschrieben. Wir fühlen mit ihr mit und rechtfertigen sie, weil wir durch die Musik ihre Ehrlichkeit und ihren Schmerz spüren, ihren Versuch, diesem grauen, hoffnungslosen und erschreckenden Alltag zu entkommen. Aber es gelingt ihr nicht. Schostakowitsch verwendet das Prinzip des „Ostinato“, sich ständig wiederholende Muster, rhythmische und harmonische Figuren, die wie Fallstricke klingen, aus denen sie nicht entfliehen kann. Auch nach dem Betrug und den Morden ändert sich Katerinas Musik nicht grundlegend; die kurzen Momente der Erleuchtung und Freude werden wieder von dieser musikalischen Falle überlagert. Und als sie im vierten Akt eine schreckliche Demütigung erleidet, verschwindet sogar das Ostinato und es bleibt nur die einsame Melodie des Englischhorns oder das Rauschen des Basses.

Torben Jürgens (Hausknecht/Alter Zwangsarbeiter), Izabela Matula (Katerina Ismailowa), Maria Polańska (Sonjetka), Valentin Ruckebier (Verwalter), Chor der Deutschen Oper am Rhein
AM: Finden sich markante Motive in der Oper? Wie hat er sie gestaltet?

VA: Bei dieser Oper kann man schwerlich von Leitmotiven im Wagnerschen Sinne sprechen, vielmehr ist sie von musikalischen Zuständen erfüllt, die immer wiederkehren und auf einer unbewussten Ebene ein Gefühl für die musikalische und dramatische Vollständigkeit dieses Werks schaffen. Es handelt sich um bestimmte Rhythmen und Harmonien, die in leicht abgewandelter Form die Heiterkeit und Lust, die Gewalt, Verzweiflung und den Schmerz in dieser Oper widerspiegeln.

AM: „Der Dirigent muss ein hohes Können besitzen, damit die Rolle des Orchesters nicht zum einfachen Accomagnement verkommt, zugleich aber auch das, was auf der Bühne vor sich geht, nicht übertönt wird“ hat Dmitri Schostakowitsch, ebenfalls in „Meine Auffassung der ‚Lady Macbeth‘“, geschrieben. Das gilt zunächst grundsätzlich für jede Oper. Was ist die besondere Herausforderung in diesem Werk?

VA: Ich kenne keine andere Oper im Repertoire, deren Partitur so laut geschrieben wurde. Der junge Schostakowitsch füllte das Orchester mit einem riesigen Arsenal an Instrumenten und Farben, die leicht eine tödliche Waffe für selbst die kräftigsten Stimmen werden könnten. Das Gleichgewicht zwischen Ausdruckskraft und Klarheit in dieser Oper zu finden, ist besonders anspruchsvoll, weil sie so viele Ideen enthält, die noch dem großen Ganzen untergeordnet werden müssen. Neben den dynamischen und koordinativen Herausforderungen ist eine der wichtigsten für mich die polystilistische Natur dieser Musik. Den richtigen Charakter für jede Figur, für jede ihrer Interaktionen zu finden, ist eine Aufgabe, die Dirigent*innen dieser Oper Tage und Nächte lang beschäftigen kann. Aber die Kraft dieser Musik ist so groß, dass sie es wert ist!
AM: Schostakowitsch war ein aufmerksamer Lauscher am Puls der Zeit und ihrer Tonsetzer. Gibt es hörbare Verbindungen in diesem Werk?

VA: Eine wichtige Rolle bei der Entstehung dieser Oper spielte eine Produktion von Alban Bergs „Wozzeck“ einige Jahre zuvor in Leningrad. Schostakowitsch übernahm vieles aus dieser Oper: die symphonische Entwicklung, den schnellen Wechsel der Gattungen zwischen Banalem und Tragischem, musikalische Formen wie Passacaglia und Walzer, die Prinzipien von gesungenem und gesprochenem Text, die Farben der Orchestrierung und vieles mehr. Neben Berg sind in dieser Oper manchmal auch Anklänge an andere Expressionisten wie Gustav Mahler zu hören. Die parodistischen, pathosgeladenen Fragmente aus der Hochzeitsszene erklingen im Stil von Modest Mussorgskys „Boris Godunow“. Andere Fragmente erinnern durchaus an die Unterhaltungsmusik der frühen Sowjetunion und der Weimarer Republik sowie an Schostakowitschs Erfahrungen als Pianist in Stummfilmen.

AM: Welche Anforderungen stellt Dmitri Schostakowitsch an die Sänger*innen? Wodurch zeichnet sich die Gesangsbehandlung aus?

VA: Es gibt so viele verschiedene Charaktere in dieser Oper, die eine sehr breite stimmliche Palette erfordern. Einige Partien sind sehr kurz, aber intensiv, wie ein Kurzstreckenlauf. Andere erfordern Durchhaltevermögen. Katerinas Rolle ist voller lyrischer und dramatischer Elemente, die Balance zwischen ihnen zu finden ist eine große stimmliche Herausforderung. Insgesamt gesehen ist der junge Schostakowitsch bereits sehr erfahren im Umgang mit Stimmen und kennt ihre Natur. Aber dennoch, im Kontext eines großen Orchesters, manchmal sehr schneller Tempi und natürlich im Kontext einer sehr intensiven dramatischen Handlung, erfordert jede Rolle großen emotionalen Einsatz.